Methylenblau und Krebs in den Medien von 1894
Fallstudie: 40jährige Patientin mit Gallenbasentumor im Jahr 1894
1894 gab es eine Einzelfallstudie, die es von einem medizinischen Fachmagazin bis in den damaligen, regionalen Mainstream schaffte.
Prof. v. Mosetig heilte eine 40jährige Patientin mit Gallenblasentumor mit Hilfe von unter anderem Methylenblau.
Das war nicht der erste Fall dieser Art. Schon 1891 war ein entsprechender Fall berichtet worden (Wiener Medizinische Wochenschrift Nr. 27, 1891, S. 1177) , bei welcher sich ein Carcinom im Abdominalraum nach Gabe von Methylenblau deutlich verbessert hatte.
Biologisch war der Heilungsmechanismus möglicherweise die Alkalisierung, da Krebs im alkalischen Milieu nicht gedeihen kann und Methylenblau unter anderem alkalisierend wirkt. Möglicherweise gab der Energieschub durch Methylenblau den verbliebenen Mitochondrien auch die Möglichkeit, die entarteten Zellen über p53 in die Apoptose zu schicken.
Was diese Einzelfallstudie so spannend macht, sind jedoch noch zwei weitere Aspekte.
Zum einen zeigt diese Fallstudie, dass Krebs kein Problem der Neuzeit ist, wie einige immer wieder behaupten und dass Krebs früher nicht so selten gewesen sein kann, denn wäre Krebs ein seltenes Phänomen, wäre darüber nicht in normalen, regionalen Tageszeitungen berichtet worden.
Diese Fallstudie ist auch ein schönes Beispiel, wie ein ursprünglicher Fachartikel von einem Fachjournal in den Mainstream schappt und wie er sich dabei durch didaktische Reduktion oder “klickbaiting” verändert.
Da die Mainstreamversionen in verschiedenen Zeitungen identisch erschienen, stellt sich auch die Frage, ob schon im im 19. Jahrhundert Meldungen von Agenturen verwendet wurden und teils ohne Änderungen abgedruckt wurden. Vielleicht waren die entsprechenden Regionalblätter auch in einer Hand oder wurden von einer Redaktion betreut oder man hat einfach teilweise von einander abgeschrieben, das kann ich leider nicht so genau sagen. Vielleicht sah man das damals mit dem Copyright nicht so eng und es ging wirklich darum, Neuigkeiten unter die Menschen zu bringen.
Diese Heilung waren jedenfalls wohl so spektakulär, dass sie selbst in Regionalzeitungen als berichtenswert erachtet wurde.
Zunächst wurde der Fall am 4. Mai 1894 in der Fachzeitschrift der “Gesellschaft der Ärzte Wien” berichtet.
“Die erste Zeitschrift des Vereins – Verhandlungen der k. k. Gesellschaft der Ärzte – wurde 1842 durch den Verlag „Braumüller und Seidel“ in Druck gebracht und bereits 1845 durch die Zeitschrift der k. k. Gesellschaft der Ärzte in Wien abgelöst. Das Blatt erschien monatlich und enthielt die Artikel der wichtigsten Abhandlungen der wissenschaftlichen Sitzungen. 1855 kam noch eine wöchentliche Zeitschrift dazu: Im Wochenblatt der Zeitschrift der k. k. Gesellschaft der Ärzte erschienen die aktuellen Berichte und Protokolle der wissenschaftlichen und administrativen Sitzungen.
1870 wurden beide Zeitschriften ersetzt durch Medicinische Jahrbücher und durch den Anzeiger der k. k. Gesellschaft der Ärzte. Ab 1888 wurden beide Zeitschriften schließlich durch Wiener klinische Wochenschrift abgelöst, in der alle Publikationen der Mitglieder der Gesellschaft der Ärzte fortan gedruckt wurden. Heute ist die Wiener klinische Wochenschrift eine zweisprachige wissenschaftliche Zeitschrift, die sich vorwiegend mit der klinischen Medizin und mit medizinisch-gesellschaftlichen Bereichen, wie Ethik, Sozialmedizin, Geschichte der Medizin beschäftigt.”1
Anschließend erschien er in zwei unterschiedlichen Versionen, einer fachlich vorsichtigeren (Version 1) und einer reißerischeren, die wie eine Werbeanzeige wirkt (Version 2)
Original Fachartikel 4. Mai 1894
2 Wiener Medizinische Wochenschrift Nr. 20, S. 906, 1894
“Prof. v. Mosetig stellt eine 40jährige Patientin vor, die im Februar des Jahres mit einem unterhalb des rechten Rippenbogens zu tastenden faustgroßen, deutlich elastischen, über die Bauchdecken promenierenden Tumor der Gallenblase aufgenommen wurde. Bei der Operation zeigte es sich, dass die Gallenblase mit einer breiigen Aftermasse erfüllt war, welche sich bei mikroskopischer Untersuchung als Carcinom erwies. Nachdem die Aftermasse ausgelöffelt war, wurden in die Höhle in Methylenblaugetauchte Jodoformgazestreifen eingelegt und gleichzeitig der Patientin innerlich 0.6 Gr. Methylenblau pro Tag verabreicht. Die Patientin hat sich unter dieser Behandlung erholt, hat an Gewicht zugenommen, der Tumor ist verschwunden und die durch die Operation gesetzte Wunde ist vernarbt.”
Version 1: 6. und 10. Juni 1894
Die erste auffindbare Mainstreamversion erschien am 6. Juni 1894 im “Neues Wiener Journal”. Der Redakteur las wahrscheinlich die obige medizinische Fachzeitschrift, die ebenfalls in Wien erschien oder besuchte vielleicht auch die Sitzungen, um darüber gegebenenfalls zu berichten.
“Das Neue Wiener Journal war eine von 1893 bis 1939 erscheinende österreichische Tageszeitung. Sie erschien mit dem Untertitel „unparteiisches Tagblatt“ und verfolgte keine klare politische Linie. In der Ersten Republik fand die politische Berichterstattung jedoch größere Bedeutung als in den Jahren zuvor. Die Grundtendenz hierbei war antimarxistisch und manchmal auch Monarchie-sympathisierend.
In einer von Antisemitismus geprägten Zeit war die vom jüdischen Jakob Lippowitz gegründete Zeitung zionistischen Fragen gegenüber stets vorurteilsfrei eingestellt. Nach dem Anschluss 1938 verlor die Zeitung ihre jüdischen Mitarbeiter und internationalen Korrespondenten. Die Zeitung erschien unter nationalsozialistischer Kontrolle weiter bis Ende Jänner 1939, als sie mit der Neuen Freien Presse und dem Neuen Wiener Tagblatt zusammengelegt wurde.”3
4 Neues Wiener Journal Nr. 221, Mittwoch, 6. Juni 1894
“Das neueste Heilverfahren gegen Krebs. Professor Dr. Albert Mosetig Ritter v. Morhof stellte in der Vollversammlung der Gesellschaft der Ärzte am verflossenen (letzten) Freitag eine ältere Frau vor, bei der ein Gallenblasen-Tumor als Krebsgeschwulst konstatiert war. Nach Austragung der Krebsmasse und Anregung eines Jodoformgaze- Verbandes wendete Professor v. Mosetig lokal und innerlich Anilinfarben, und zwar Methylenblau und Methylenviolett, an. Die zuvor sehr herabgekommene Patientin hat sich seither, wie die Demonstration derselben ergab, sehr erholt. Der Gelehrte fügte bei, dass er bereits viele Fälle von auffallender Besserung ganz aufgegebener Patienten nach seiner Methode beobachtet habe; auch andere, dieses Heilverfahren rezipierende Doktoren hätten mit der in Rede stehenden Therapie zufriedenstellende Resultate erzielt. In der am 22. Mai 1994 in der Pariser Akademie der Medizin stattgefundenen Sitzung berichtete Dr. A. Darier über mehrere Fälle von Heilungen von Hautkrebsen mittelst täglicher Bepinselungen der Geschwürsflächen mit Methylenblau. Die Ausführungen Professor v. Mosetig's wurden mit regestem Interesse angehört. So erfreulich diese Nachricht auch klingt, so sehr ist sie mit Vorsicht aufzunehmen. Schon seit einer Reihe von Jahren werden derartige Versuche mit Anilinfarben, speziell mit Methylviolett, hauptsächlich auf Anregung von Professor Ehrlich in Berlin gemacht. Man wollte eine Art Allheilmittel entdeckt haben, das nicht nur Geschwülste zum Schwinden bringen sollte, sondern auch wirksam sein gegen Rheumatismen, Kopfschmerzen, neuralgische Schmerzen u. a. Leider haben die bisherigen Erfahrungen bewiesen, daß dieses Mittel zwar bisweilen von überraschendem Erfolg ist, sehr häufig aber völlig versagt. Hoffentlich gelingt es mit der Zeit, eine Ständigkeit in der Wirkung zu erzielen.”
Auch damals war man schon misstrauisch, wenn jemand behauptete Krens heilen zu können. Das muss als ein Thema in der Gesellschaft gewesen sein.
4 Tage später erschien der Artikel noch einmal im der Bukowinaer Post.
“Die Bukowinaer Post (war) eine österreichische Zeitung, die in Czernowitz erschienen. Die Bukowinaer Post erschien zwischen 1893 und 1914 dreimal wöchentlich, Herausgeber und leitender Redakteur war Moriz Stekel.”5
6 Bukowinaer Post, 10. Juni 1894, S. 4
Version 2: 7., 9., 23. Juni 1894
Einen Tag, nachdem der medizinisch vorsichtigere Artikel im “Neues Wiener Journal” erschienen war, erschien diese Kurze, etwas reißerischere Version zeitglich im “Prager Tageblatt” und der Wiener “Reichspost”.
“Das Prager Tagblatt war eine deutschsprachige Tageszeitung, die von 1876 bis 1939 ununterbrochen in Prag erschien. Egon Erwin Kisch und Friedrich Torberg waren eine Zeitlang Redakteure der Zeitung, Torberg widmet dem Blatt auch ein Kapitel seines Buchs Die Tante Jolesch. Weitere berühmte Mitarbeiter waren Alfred Polgar, Hans Habe, Roda Roda, Johannes Urzidil und Max Brod, der später den Roman Rebellische Herzen über seine Zeit beim Tagblatt schrieb. Joseph Roth und Sandor Marai etablierten sich hier als junge, talentierte Journalisten.”7
8 Prager Tagblatt Nr. 155, 7. Juni 1894, S. 9
“*[Krebs heilbar?] " In der letzten Sitzung der Gesellschaft der Wiener Ärzte stellte Professor Dr. v. Mosetig eine ältere Frau vor, bei der gegen Krebs Anilinfarben, und zwar: lokal durch Einführung von Methylviolettstäbchen bis an den Grund der Wunde und innerlich durch Verabreichung von Methylenblau zur Anwendung gekommen waren. „Die zuvor arg herabgekommene Patientin hat’ sich seither erholt. Professor Mösetig fügte hinzu, dass er bereits viele Fälle von auffallender Besserung Krebskranker nach Behandlung mit Anilinfarben beobachtet habe. Zu der am 22. Mai 1894 in der Pariser Akademie der Medizin stattgefundenen Sitzung berichtete auch Dr. A. Darier über mehrere Fälle der Heilung von Hautkrebsen der tägliche Bepinselung mit Methylenblau”
9 Reichspost, Wien, Donnerstag, 7. Juni 1894, S. 129
“Die Reichspost war eine österreichische Tageszeitung für „das christliche Volk Österreich-Ungarns“, die in Wien herausgegeben wurde und sich hauptsächlich an die katholische Leserschaft wandte.”10
Weitere, identische Artikel, erschienen anschließend in regionalen Blättern, für die es teilweise nicht einmal mehr Wikipedia Einträge gibt, so klein und regional waren diese wohl.
11 Teplitz-Schönauer Anzeiger N. 46, 9. Juni 1894, S. 3
“Der Teplitz-Schönauer Anzeiger war eine Zeitung der Sudetendeutschen für den Raum Teplitz-Schönau, Dux und Bilin.
Die Zeitung wurde im Jahre 1861 in Teplitz-Schönau gegründet und war von einem liberalen Stil geprägt. Sie diente den sudetendeutschen Vertretern der Landsmannschaft hauptsächlich als Nachrichtenblatt und zur Pflege des kulturellen Gutes der Sudetendeutschen.”12
13 Leitmeritzer Zeitung Nr. 44, 9. Juni 1894, S. 757
Die Leitmeritzer Zeitung war eine deutschsprachiger Zeitungen in Tschechien und erschien 1871–1896.14
15 Freie Stimmen Nr. 75, S. 5, Klagenfurt, Samstag den 23. Juni 1894
“Die Freie Stimmen war eine in Klagenfurt von 1881 bis 1938 erscheinende deutschnationale Zeitung.”16
Wikipedia-Autoren. (2011a, April 28). Gesellschaft der Ärzte in Wien. https://de.wikipedia.org/wiki/Gesellschaft_der_%C3%84rzte_in_Wien
Wikipedia-Autoren. (2008b, August 28). Neues Wiener Journal. https://de.wikipedia.org/wiki/Neues_Wiener_Journal
Wikipedia-Autoren. (2014b, July 14). Bukowinaer Post. https://de.wikipedia.org/wiki/Bukowinaer_Post
Wikipedia-Autoren. (2005, May 16). Prager Tagblatt. https://de.wikipedia.org/wiki/Prager_Tagblatt
Wikipedia-Autoren. (2005a, March 3). Reichspost (Zeitung). https://de.wikipedia.org/wiki/Reichspost_(Zeitung)
Teplitz-Schönauer Anzeiger - 2009 - Wikipedia-Autoren https://de.wikipedia.org/wiki/Teplitz-Sch%C3%B6nauer_Anzeiger
Wikipedia-Autoren. (2022, December 23). Liste deutschsprachiger Zeitungen in Tschechien. https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_deutschsprachiger_Zeitungen_in_Tschechien
Wikipedia-Autoren. (2019, May 8). Freie Stimmen (Kärnten). https://de.wikipedia.org/wiki/Freie_Stimmen_(K%C3%A4rnten)