Henry Dorsett Case war einmal ein guter Cyberjokey, er arbeitete für die Mafia und war leider so dumm zu versuchen, seinen Boss zu betrügen. Der zerstörte sein Nervensystem, Case konnte nie wieder in den Cyberspace, und schlägt sich seitdem als kleiner Dealer in Chiba durch. Immer kurz davor, sich mit Drogen selbst umzubringen, paranoid, ausgebrannt, auf der Flucht vor sich selber. Eines Tages taucht der Street Samurai Molly Millions bei ihm auf, sie hat einen Job für ihn, ihr Boss Armitage weiß, wie man Case heilen kann. Der Deal hat aber einen Haken, um sicherzugehen, dass Case ihn nicht betrügt, implantiert er ihm kleine Depots mit Neurotoxinen, und nur Armitage und sein Boss weissen, wie man sie entschärft, natürlich nach dem Auftrag.
Neuromancer (ein Portmantreau aus Neurons + Necromancer) erschien 1984, lange vor dem Internet, zu einer Zeit als es BTX oder Minitel gab und noch früher ARPANET. Gibson erfand den Begriff Cyberspace und sagte KIs voraus. Einiges jedoch ist sehr fremd, Firewalls werden als ICE bezeichnet, Hacker sind Jockeys, das Internet/die Matrix wird mit sogenannten Decks navigiert. Es gibt schon Microsoft, aber das ist eine Bezeichnung für Chips, die man sich hinter dem Ohr einstöpselt und so Fähigkeiten aktiviert.
Es dauert am Anfang, sich an diese archaischen Begriffe aus der Vor-Internetzeit zu gewöhnen, man überlegt permanent, welchen tatsächlichen heutigen Begriffen die verwendeten Worte des Autors entsprechen und die neuen Bedeutungen schießen permanent quer und irritieren. Das ist der Augenblick in dem man versteht, warum man bei manchen Büchern vielleicht das Vokabular an die jeweilige Zeit anpassen sollte, damit man es genießen oder wieder verstehen kann.
Dieser Roman ist der erste seiner Art. Er war die Keimzelle für Shadowrun, Matrix und viele andere Geschichten des (kurzlebigen) Cyperpunk Genres. Jonny Mnemonic (verfilmt mit Keanu Reeves) ist eine Kurzgeschichte von William Gibson, die in dieser Welt spielt und auch in diesem Buch in gewisser Weise angesprochen wird.
Der Roman ist sprachlich eine Herausforderung, den Gibson ging wohl davon aus, dass die englische Sprache sich auch in Zukunft vereinfachen würde. In Gibsons Zukunft gibt es kein 3rd Person Singular s mehr. Einige Dialoge sind hart an der Grenze der Verständlichkeit, voller Slang, rudimentärer Grammatik und der Inhalt der Dialoge, besonders mit dem Zionite Rastafari kann teilweise bestenfalls erahnt werden aber nicht wirklich Wort für Wort verstanden werden. Es scheint auch Einflüsse aus der african american Grammatik zu geben.
Ähnlich wie bei Philipp K. Dick kommt es dem Autor wohl auf die Vision an, die neuen, noch nie dagewesenen Ideen und Welten, die erschaffen werden. In dieser Welt herrschen die Konzerne, Länder scheinen keine wirkliche Bedeutung mehr zu haben. Es gibt sehr viele Arme, die sich in den Sprawls durchschlagen. Arm ist man wohl, wenn man nicht zu einem Konzern gehört. Als Konzerner sollte man sich in diesen Gebieten lieber nicht sehen lassen. Bargeld ist illegal, aber es gibt eine Parallelwährung die auch offline funktioniert und eher in den Sprawls verwendet wird. Eine Zukunft, die heute dabei ist, Realität zu werden und die später in dieser Horrorvision von vielen anderen Autoren übernommen wurde.
Die Geschichte an sich ich eher unspektakulär. Ein Gangsterteam mit einen Auftrag, einem obskuren Auftraggeber, Einbruch in ein Hochsicherheitsgebäude, alles schon mal dagewesen.
Ein Roman, an dem sich auch Literaturkritiker ordentlich abgearbeitet haben. Das Buch wurde unter diversen Aspekten analysiert und ist mittlerweile auch als Prüfungsstoff zugelassen, man könnte sagen, es wurde im Kanon der Klassiker auch von den Universitäten akzeptiert.
Ich kann die Vision schätzen, ich erkenne das Potential, die Geschichte unter verschiedenen Aspekten zu interpretieren. Die Story und der Plot jedoch sind dermaßen vorhersehbar und in gewisser Weise eine normale Ocean’s XYZ Geschichte, dass es dafür Punktabzug gibt. Andererseits ist die Vision so gelungen, dass das Buch selbst aus heutiger Sicht noch modern wirkt und immer noch in der Zukunft zu spielen scheint, aber dennoch viele Aspekte unserer Zeit tatsächlich recht treffend vorhergesagt hat. Es wirkt nicht, wie in den 1980er Jahren geschrieben, es vermeidet das Flair der 1980er, das ist wirklich erstaunlich.