In einem kleinen Dorf bei Neu-Zittau lebt Bahnwerter Thiel. Er ist ein ruhiger, phlegmatischer, praktisch veranlagter Mann. Nachdem seine erste Frau, die er aus Liebe heiratete, im Kindbett starb, heiratet er aus praktischen Gründen eine Milchmagd, damit ihm das Kind nicht stirbt. Seine neue Gattin erweist sich als wahrer Hausdrachen, zänkisch und herrschsüchtig. Sie macht ihm und dem etwas zurückgebliebenen Tobias das Leben schwer, erst recht, als sie selbst einen kleinen Sohn zur Welt bringt.
Bahnwärter Thiel dürfte wohl einer der bekanntesten Romane von Gerhart Hauptmann sein, wobei ich Roman als übertrieben erachte, Kurzgeschichte trifft es in meinen Augen eher. Die Erzählung zählt angeblich zu den bedeutendsten Werken des Naturalismus. Dazu mag man stehen, wie man will, ich finde allgemein wird dieses dünne Geschichtchen arg überinterpretiert. Insgesamt liest sich diese Geschichte recht gut, sie ist stimmungsvoll, auch wenn man teilweise das Gefühl hat, einen Zeitungsbericht zu lesen.
Einiges wunderte mich bei der Lektüre. Thiel hängt liebevoll an seinem Söhnchen aus erster Ehe, so wie er eigentlich alle Kinder liebt. In seiner Freizeit kümmert es sich um die Dorfjugend, umso erstaunlicher, dass er mit seinem Zweitgeborenen nichts anfangen kann, der ist doch auch ein Kind und zwar sein Kind. Thiel sieht diesen Sohn jedoch nur als Kind seiner zweiten Frau an, das ist schon seltsam.
Aus heutiger Sicht eine nicht wirklich innovative Geschichte. Hier wird einfach nur das Leben einer Patchworkfamilie aus Arbeitermilieu erzählt. Beide Elternteile nicht sonderlich helle und schon gar nicht gebildet. Die Frau ein Drachen, der Mann ein liebevolles Weichei. Letztendlich eine Geschichte, wie man sie leider häufig in der Zeitung liest: Familiendrama nach Schicksalsschlag. Vater verliert den Verstand und tötet Frau und Kinder. Vielleicht wurde damals nicht so häufig in den Zeitungen über solche Fälle berichtet, vielleicht schwieg man derlei Vorkommnisse tot, vorgekommen sind sie sicherlich. Gerhart Hauptmann sah sich selber auch nie als Sozialkritiker. Er bestand auch bei seinen Webern darauf, dass er nur historische Ereignisse beschreibt und genau das macht er meiner Meinung nach auch in Bahnwerter Thiel. Gelungen transportiert er die Melancholie des Vaters durch seinen gesetzten Erzählstil, mehr auch nicht. Den einzig spannenden Augenblick spoilert der Autor leider selber: „Paß auf […] daß er den Gleisen nicht zu Nahe kommt.“ Danach noch ein Absatz, was sonst nicht in der Geschichte vorkommt, und jedem Leser ist klar, wie es weitergehen wird. Der Wink mit dem Zaunpfahl ist hier schon ein Telegrafenpfahl, leider.