Ruth wurde 1853 als klassischer victorianischer Threedecker veröffentlicht. Damals, war die Geschichte ein Skandal. Heute ist sie, vielleicht gerade daher, immer noch aktuell und sehr modern.
Ruth wird mit ca. 15 Jahren zur Vollwaise. Sie scheint keine sonstige Verwandtschaft zu haben, und wird von einem behördlichen Vormund in eine Lehrstelle als Schneiderin vermittelt, einer der wenigen Berufe damals, die eine ehrenvolle Frau ausüben konnte.
Sonntags geht die Chefin aus. Was ihre Lehrlinge machen, ist ihr herzlich egal und nicht ihr Problem, denn die meisten besuchen ihre Familien. Ruth jedoch hat niemanden, den sie besuchen kann, bis sie den 23 Jahre alten Henry Bellingham, kennenlernt, der ihr hilft, einen kleinen Jungen aus dem Fluss zu retten. Er findet sie attraktiv und will sie für sich gewinnen. Ruth ist jung und naiv und die Beziehung letztendlich absolut harmlos. Die beiden gehen gemeinsam spazieren und werden dabei von Ruths Chefin erwischt, die sie rauswirft. Henry Bellingham nimmt Ruth zu sich nach London und die beiden leben ein Jahr in wilder Ehe zusammen, bis Henry auf einer Reise in Wales schwer erkrankt. Ruth pflegt ihn, bis seine Mutter eintrifft. Sie ist nicht sonderlich begeistert, dass ihr Sohn mit einer Freundin zusammenlebt. Sie reist mit ihrem Sohn ab und lässt Ruth 50 GBP zurück und den Hinweis, sie solle doch lieber in ein Arbeitshaus gehen, da würde sie besser hinpassen.
Ruth ist erschüttert, sie liebte Henry wirklich von ganzem Herzen, er ist die Liebe ihres Lebens. Durch den Schock erkrankt sie schwer und wird von Mr. Benson, einem Pastor, mit dem sie sich in Wales angefreundet hatte, gepflegt und zu sich nach Hause genommen, wo sie von nun an mit ihm und seiner Schwester leben soll, mit der falschen Identität einer Witwe, denn Ruth ist schwanger.
Dieser Roman ist die Geschichte einer Teenangerschangerschaft, wie sie auch heute immer wieder vorkommt. Ruth ist jung, naiv und verliebt. Den Preis muss aber immer die Teenagermutter zahlen, nicht der junge Mann. Diese Messen mit zweierlei Maß wird in diesem Roman hinterfragt. Ruth ist die Güte und Reinheit in Person, daher geriet sie ja in diese Situation. Mr. Benson und seine Schwester geben Ruth eine zweite Chance und alles ist gut, solange alle glauben, sie ist Witwe. Als die Wahrheit auffliegt, wie es früher oder später passieren muss, wird sie geschnitten. Aus einer bewunderten und respektierten jungen Frau wird über Nacht eine Ausgestoßene, obwohl sie doch immer noch der gleiche Mensch ist. Nach und nach erarbeitet sich Ruth in Demut wieder eine respektierte gesellschaftliche Position und den Menschen um sie herum wird klar, dass sie die Gute und das Opfer ist und der Mann, der sie verführte der Schuldige.
Gaskell hält in diesem Roman der bigotten viktorianischen Gesellschaft einen Spiegel vor, die den reichen Bubis jede Verfehlung durchgehen lässt und ihnen auf die Schulter klopft für ihre Männlichkeit und unschuldige, junge Frauen verdammt und die Kinder, die erst recht nichts dafür können gleich mit. Die Bensons sind ein christlicher Gegenentwurf, die mit Liebe und Unterstützung alles tun, um dieser jungen Frau wieder auf die Beine zu helfen und so letztendlich vielen Menschen in der kleinen Stadt das Leben retten und viel Gutes bewirken. Dennoch zwingt die Gesellschaft sie erst einmal dazu, zu lügen.
Ein sehr moderner Roman, die die schwachen und die Opfer einer bigotten Gesellschaft verteidigt, die an ihrer eigenen (falschen) Moral erstickt. So aktuell wie eh und je.
Die Figuren haben Tiefe und sind wunderbar charakterisiert. Sie entwickeln sich im Laufe der Geschichte weiter und Ruth wächst einem extrem ans Herz. Er ist unverständlich, dass keiner der großen deutschen Verlage je eine Übersetzung herausgebraucht hat. Es scheint nur eine Übersetzung aus dem 19. Jahrhundert zu geben. Dieser Klassiker verdient es, auch heute noch gelesen zu werden. Er steht Hardys Tess oft the Durbervilles in nichts nach auch wenn Ruth nicht so eine Rebellin ist, wie Tess. Ruth ist eine Tiegermutter, die ihr Junges verteidigt und alles tut, ihrem Kind das bestmögliche Leben zu geben, auch ohne einen Vater und mit der Schande, die die Gesellschaft ihm andichtet.