Paul Manning, der 19jährige homodiegetic narrator (mit internal focalization) erzählt in dieser Novella wie er seine Cousine zweiten Grades, Phillis, kennenlernte.
Paul Manning geht bei der Eisenbahn in die Lehre. Sein Mentor ist der Ingenieur Mr Holdsworth, von dem Paul mehr als beeindruckt ist. Da Paul in der Nähe der Cousine seiner Mutter wohnt, bittet ihn seine Mutter, den Kontakt zu diesem Familienzweig wieder aufzunehmen, vielleicht, damit er nicht so alleine ist und es jemanden gibt, der ihm auf die Finger schaut, denn der Ehemann dieser Cousine ist Reverend Ebenezer Holman und Paul gibt offen zu, dass er von Pfarrern in dem Alter eher genervt ist und so gar keine Lust hat sich mit noch einem Reverend in seiner Freizeit abgeben zu müssen.
Seine Cousine Phillis jedoch beeindruckt ihn. Sie ist ein Jahr jünger als Paul, aber größer und vor allem viel gebildeter und belesener als Paul. Sie kann Latein, Griechisch und Italienisch und interessiert sich für Mechanik. Phillis ist somit ein weibliches Ebenbild ihres Vaters, dessen Hobbies so gar nichts mit Religion zu tun haben, sondern in Richtung Physik und Mechanik tendieren. Der Vater lässt sie gewähren, denn sie ist sein einziges überlebendes Kind, ihr kleiner Bruder verstarb bereits sehr früh und sich Sachen Gelehrsamkeit nahm Phillis die Stelle dieses toten Bruders ein.
Paul ist von Phillis Intellekt dermaßen eingeschüchtert (und auch von ihrer Körpergröße), dass er für sie nie andere Gefühle als brüderliche Liebe entwickelt, anders als man das in einem klassischen Liebesroman der viktorianischen Zeit erwarten würde. Als sein Vater ihm eine Verbindung mir Phillis vorschlägt, wehrt er auch entschieden ab, sie wäre zu groß und zu klug führ ihn. Stattdessen stellt er ihr seinen Mentor Mr Holdsworth vor, der sich auf dem Bauernhof der Holmans von einer schweren Krankheit erholen soll. Es kommt, wie es kommen muss, Phillis erkennt in Mr Holdsworth genau den Mann der ihrem Naturell und Intellekt entsprechen würde, nur, Mr Holdsworth ist ein moderner Mann, ein Ingenieur, dem seine Karriere das Wichtigste ist. Obwohl er Phillis liebt, liebt er seinen Job noch mehr und nimmt eine Stelle in Kanada an, die seiner Karriere einen großen Schub verleiht.
Diese Geschichte ist auf den ersten Blick sehr geradlinig erzählt, unaufgeregt, nichts Besonderes. Auf den zweiten Blick jedoch stellt sich das alte, bäuerliche England gegen das neue, industrialisierte England und das gleich mehrfach:
• Die Holdsworths leben noch sehr traditionell, aber die Mechanisierung fasziniert den Reverent bereits und in der Nachbarstadt wird bereits eine Eisenbahn gebaut.
• Phillis vereint in sich die viktorianischen Tugenden der Weiblichkeit, sie ist häuslich, sie beschäftigt sich mit Handarbeiten, Küche und Kirche ist gleichzeitig aber auch interessierte Naturwissenschaftlerin und liebt es, Sprachen zu lernen.
• Phillis fühlt sich zu einem Ingenieur hingezogen, die Männer bewundern sie ob ihrer Bildung, aber geheiratet werden dann doch eher klassische viktorianische Mädchen, denn so weit geht die Bewunderung der Männer dann doch nicht, dass sie so eine Frau heiraten würden.
• Phillis steht auf der Schwelle zwischen Kind und Frau, genau wie England auf der Schwelle zwischen bäuerlicher Lebensweise und Industrialisierung steht. Während in England die Industrialisierung gewinnt, gewinnt in der menschlichen Gesellschaft die klassische Hausfrau in Sachen Familie und Ehe und die „moderne“, gebildete Frau bleibt auf der Strecke.
In gewisser Weise ist diese Novella eine klassische coming of age Geschichte. Phillis erste Liebe, Philis erster Liebeskummer und die Erkenntnis der Eltern, dass ihre Tochter eben kein Kind mehr ist, sondern eine junge Frau. Diese hilflose Erkenntnis des Vaters, dass sein Tochter zum ersten Mal verliebt ist und dass er ihr nicht helfen kann in ihrem Kummer ist zeitlos genau wie das Problem, dass Männer intellektuell immer noch nach unten heiraten und keine Frau wollen, die gebildeter ist als sie, selbst im 21. Jahrhundert.
Die Geschichte ist so gelungen, weil sie die eben nicht die viktorianischen Ideale bedient, wie man es in einer Liebesnovella erwarten würde. Die „Helden“ sind nicht attraktiv, auch Paul ist kein Hingucker und muss sich das mehr als einmal anhören. Die Helden verlieben sich nicht in einander. Die Geschichte endet nicht in einer Ehe, sie endet eher vollkommen in der Schwebe und man fragt sich, wie es wohl weitergegangen wäre.
Obwohl fast nichts passiert, zumindest nichts, was man als erzählenswert ansehen würde, und man sich ständig fragt, warum Paul diese Geschichte eigentlich erzählt, hält einen der homodiegetic narrator mit kleinen Kommentaren, die Ausblick auf die Zukunft geben, bei der Stange. Man will wissen, wie es weitergeht und man beginnt die Charaktere zu mögen, denn sie sind nicht perfekt, sie sind lebendig und wirken wie echte, lebende Personen.
Fazit: Unaufgeregtes Kleinod der viktorianischen Novella
Die Sprecherin des Hörbuchs, Elizabeth Klett, ist ein Profi und ich kann ihre Lesungen nur wärmstens empfehlen.